Cassandras Kopfkino
Mittwoch, 4. Mai 2005
MEINE ERSTEN FOLTERERFAHRUNGEN
cassandra, Mittwoch, 4. Mai 2005, 04:55
Filed under: Erinnerungen
Das einzige Foto aus dem Sommer 1985 zeigt eine Gruppe von ca. dreissig 10-12-jährigen frisch gebackenen Thälmannpionieren. Ich stehe in der ersten Reihe. Weisse Brille auf der Nase, die braunen Haare noch kurz vor den Ferien von Mutti in eine topmodische Kochtopffrisur geschnitten, ein rotes Halstuch umgebunden, schaue ich sehr ernst und erwachsen in die Kamera.
Es ist ein riesiges Lager in der Nähe von Rostov-am-Don, voll von 12-Mann Armeezelten mit Doppelstockbetten, in denen unsere Gruppe von deutschen Halbwüchsigen zwischen den sowjetischen Lagerinsassen eine Art VIP Bereich bewohnt. Das Essen ist besser, die Bettdecken weicher und die Regeln weniger streng.
Trotz Sonderstatus dürfen wir um 7 Uhr in der Früh zum Appell und gemeinsamen Frühsport antreten. Meine biologische Uhr tickt jedoch etwas neben der sozialdemokratischen.
Auch an diesem Morgen, dem Morgen vor einer geplanten Exkursion in eine große sowjetische Metropole, verweigere ich die Nahrungsaufnahme zu früher Stunde und setzte mich wort- und genossenschaftsgrußlos in den Bus. Während der vierstündigen Fahrt äussert sich mein passiver Protest durch vollständige Aufmerksamkeitsverweigerung. Ich schlafe durchgängig bis zum Eintreffen in der Vorzeigestadt unseres Bruderlandes und werde unsanft aus meinen Träumen gerissen, als ein Haufen junger Deutscher an mir vorbei in Richtung des vorreservierten Restaurants stürmt. Benommen stolpere ich hinterher. Bereits nach wenigen Schritten übermannt mich eine Welle seltsamer Empfindungen. Sie erinnern an das typische Haar-Schneide-Phänomen.
Die Dinge, die sich in meinem Kopf und Körper abspielen gleichen den Empfindungen, die mich stets im heimischen, engen, heissen Badezimmer, vor der Toilette stehend überkommen, wenn meine Mutter einmal wieder ihren unterdrückten kreativen Impulsen freien Lauf lässt. Die heisse Luft dringt in die Poren der Haut, steigt zum Kopf, sammelt sich dort zu einem kochendem Vulkan, der sämtlich klaren Gedanken in einen Strudel reisst. Das Badezimmer beginnt, sich zu drehen, waberne Dampfwolken zerfliessen zu einem abstrakten Raum, die Stimme meiner Mutter klingt aus weiter Ferne, wie durch Watte zu mir, doch ich kann den Sinn ihrer Worte nicht einordnen.
Die Hitze sucht einen Weg nach draussen, reisst den Mageninhalt mit sich, der ebenfalls den Anschein vermittelt, ausbrechen zu wollen. Die Wellen umspülen den Körper bis sie mit ganzer Kraft über dem Kopf zusammenschlagen und sich der Dampf in Dunkelheit auflöst.
Schnurstracks suche ich im Restaurant die Toilette auf. Doch die gewohnte Umgebung veranlasst meinen Körper nur dazu, sich intensiver der Hitze hinzugeben. Ich wende mich an eine der Aufpasserinnen unserer Gruppe, fasele etwas von Haare schneiden und schwindelig sein und sie empfiehlt mir, mich an ein Fenster zu stellen, um etwas frische Luft zu atmen. Während sich meine Hände an das Fensterbrett klammern, wundere ich mich darüber, dass die draussen vorbeilaufenden Russen schwarze Köpfe haben. Der Rest des Bildes ist hoffnungslos überbelichtet und in blütenreines Weiss getaucht.
Als auch der verbliebene Rest Zeichnung schwindet und in eine sehr lange Weissblende übergeht, entscheide ich mich dafür, dass eine horizontale Position der Situation angemessener erscheint.
Der Notarzt kommt in einem bunten Wagen mit Blaulicht und ich erhalte die erste und bisher letzte Koffeininfusion meines Lebens in meinen Schenkel.
Als ich nach der ärtzlichen Notfallversorgung tatsächlich das Restaurant betrete, lässt sich von der viel-gepredigten Solidarität eines Thälmannpionieres nicht das geringste Anzeichen finden.
Meine kollegialen Mitreisenden liegen in den letzten Zügen des Verzehrs ihrer Nachspeise. Übrig gelassen hat mir niemand etwas.
In den folgenden Stunden hechele ich fröhlich durch sämtliche orthodoxen Kirchen der Stadt, springe fidel die Treppen von Glockentürmen hinauf und balanciere auf alten Mauerresten. Als die Wirkung des Koffeins nachlässt, fühle ich mich plötzlich sehr müde. Nach der vierstündigen Rückfahrt verzichte ich dankend auf das gemeinsame Lagerabendessen und ziehe mich ins Bett zurück.
Einer der Lagerwärter erkundigt sich nach meinem Befinden und besteht darauf, meine Temperatur zu messen. Ich habe leichtes Fieber und friere schrecklich. Es stellt sich heraus, dass mehrere Angehörige meiner deutschen Reisegruppe unter ähnlichen Symptomen leiden und wir werden in die Krankenbaracke verfrachtet. Die Verordnung des Lagerarztes, meine Bettdecke zu entfernen, entspricht wohl der sowjetischen Methode der Körpertemperatursenkung.
Während ich lediglich zähneklappernd und vollkomen übermüdet in meinem Bett liege und leise vor mich hin schimpfe, geht es meinen Genossen wohl wirklich schlecht. Kurz vor Mitternacht werden wir in einen Armee-Pritschenwagen verfrachtet, in dem wir auf Holzbänken zusammengepfercht das nächst gelegene Krankenhaus aufsuchen. Nun war die Sowjetunion vor früher mal sehr gross.
Die Ausmaße werden einem jedoch erst bewusst, wenn man fiebrig zitternd auf einer Holzbank sitzt und mitten in der Nacht zwei Stunden durch die Gegend ruckelt, um zum nächsten Krankenhaus zu gelangen. Ich will nur schlafen. Was gäbe ich in diesem Moment für ein weiches Bett mit einer dicken warmen Decke.
Stattdessen erreichen wir irgendwann unser Ziel und werden in ein Krankenzimmer geführt. Der Raum ist acht Meter lang und zweieinhalb Meter breit. Fünf Betten stehen nebeneinander mit Blick auf eine weißlackierte Holzwand, in die eine große Flügeltür eingelassen ist, die vermutlich zu einem Badezimmer führt. Betten! Weiße Laken und Bettdecken. Ja. Schlafen. Endlich. Wir dürfen uns ausziehen und hinlegen.

Das Zimmer ist geschlechtergemischt und nur von uns Deutschen belegt.
Gegen halb drei betritt eine Gruppe russischer, weißbekittelter Männern den Raum. Sie sprechen mit dem Mädchen, das ganz links, im ersten Bett liegt. Ich kann nicht hören, worüber sie reden, da ich mich im vierten Bett von der Tür entfernt befinde. Das Mädchen steht auf und folgt ihnen durch die Tür zu unseren Füßen in das vermeintliche Badezimmer. Die Tür schliesst sich und wenige Sekunden später hört man ihre Schreie. Sie schreit und weint. Die Müdigkeit ist vergessen. Aufrecht sitzen wir in unseren Betten und starren auf die weiße Flügeltür. Die Schreie und eine Art unterdrücktes Gurgeln dauern ungefähr fünf Minuten an, dann öffnet sich die Tür und sie wird, von den Weißkitteln gestützt, zu ihrem Bett getragen. Sie weint bitterlich und kann nicht reden. Während dessen wird bereits Patient von Bett Nummer zwei in den Raum gezerrt. Das Schauspiel wiederholt sich. Hinter verschlossenen Türen hört man den Jungen schreien, keuchen und weinen. Der Junge neben mir gerät in Panik. „Mit mir machen sie das nicht. Auf keinen Fall. Sie können mich zu nichts zwingen.“ Er hat Tränen in den Augen und als die Männer zurück kommen, um Patient von Bett Nummer zwei zurückzugeleiten und Nummer Drei zum Kommen aufzufordern, reagiert er bockig. Sie greifen seine Arme und er schlägt blind um sich und schreit „Nein, nein, nein, nein.“ Irgendwann geben sie auf und wenden sich mir zu. Ich heule bereits hemmungslos und will dem tapferen Beispiel meines Bettnachbarn folgen. Ich will mich verweigern, stark sein. Was auch immer sie von mir wollen, ich werde standhaft sein. Ich will doch nur schlafen.
Es hat keinen Zweck. Einer der Männer redet auf deutsch auf mich ein. „Es ist zu deinem besten. Es wird nichts passieren. Alles wird gut.“ Ich lasse mich in den Raum schleifen. Die weißen Türen schliessen sich hinter mir. Der Raum in dem ich mich befinde, ist genauso groß wie das Bettenzimmer. Ein lang gezogener Schlauch, jedoch komplett mit Kacheln ausgelegt. Ein Waschbecken, eine Toilette, eine Neonlampe an der Decke. In der Mitte steht ein einzelner Stuhl. Man drückt mich auf selbigen. Die Männer halten meine Arme fest, so dass ich mich nicht bewegen kann. Der Oberweißkittel hält einen Schlauch in der Hand. Er ist in Beschaffendheit und Durchmesser den Wasserschläuchen ähnlich, die meine Eltern zur Bewässerung ihres Gartens benutzen. Ich weiss noch immer nicht, was eigentlich vor sich geht. Der Schlauchträger macht sich an die Arbeit. Während unzählige Hände meinen Mund aufhalten und meine Hände hinter meinem Rücken kreuzen, schiebt er sein Werkzeug in meinen Hals. Ich versuche zu schreien. Als meine Kehle nur noch erstickende Geräusche von sich gibt, kann ich mich befreien und schlage ich mit Händen und Füßen um mich. Doch die anderen Hände sind stärker. Zentimeter für Zentimeter verschwindet das Gummi in meinem Körper. Ich würge. Doch dies reichte wohl nicht aus. Ein Trichter wird auf den Schlauchansatz gesetzt und jemand giesst Wasser aus einer Kanne herein. An den Rest kann ich mich nicht erinnern. Viel kann die ganze Aktion nicht gebracht haben, weil sich relativ wenig verwertbares Material in meinem Magen befindet. Irgendwann liege ich wieder in meinem Bett und während Bett Nummer fünf abgeführt wird und Bett Nummer drei fragt, was denn nun passiert ist, wende ich mich ab und vergrabe meinen Kopf im Kissen. Schlafen. Nur noch schlafen.

Ich bin gerade eingenickt, da rüttelt jemand an meiner Schulter. Eine Schwester sagt mir auf Russisch irgendetwas und winkt wild mit der Hand. Ich stehe auf und folge ihr. In diesem Moment ist alles egal. Es ist mir auch egal, dass ich mich in einem anderen Raum auf ein Bett legen soll und sie sich an meinem Hintern zu schaffen macht. Kurz darauf habe ich einen Schlauch in meinem Darm und Wasser wird mit Hochdruck hineingeblasen. Nichts berührt mich in diesem Moment mehr. Es ist nicht mein Körper, dem dies passiert. Vermutlich bin ich schon lange eingeschlafen und dies ist nur ein aussergewöhnlich realistischer Albtraum.

Am nächsten Morgen geht es mir großartig. Kein 7 Uhr Appell, kein Frühsport. Ich bin ausgeschlafen, fieberlos und aufgelegt, neue Abenteuer zu erfahren. Die anderen hängen inzwischen am Tropf. Fünf weitere meiner Reisegefährten werden im laufe des Tages eingeliefert. Sie haben sich in dem Restaurant in der Großstadt eine schwere Lebensmittelvergiftung zugezogen. Ich nicht. Ich habe ja an diesem Tag nur Unmengen von Koffein konsumiert. Leider interessiert das niemanden. Ich verbringe noch fünf unglaublich langweilige Tage in einem russischen Krankenhaus. Einmal kommt einer unserer Betreuer uns besuchen. Er bringt Mandarinen mit. Jeder, der in der DDR aufgewachsen ist, weiß, dass das etwas ganz besonderes ist.

Kommentare (4 Kommentare)   Kommentieren



... ältere Einträge