Cassandras Kopfkino
AUFARBEITUNG DER VERGANGENHEIT
mal wieder
cassandra, Montag, 11. Dezember 2006, 15:02
Filed under: Begegnungen
Mr. Binto hatte eine ungebändigte Mähne gekräuselter langer schwarzer Haare. Seinen Bart trug er genauso lang und so blieb vom Gesicht nicht mehr viel übrig als zwei kleine dunkelbraune Augen, die immer ganz lieb schauten. Vermutlich waren ein paar hispanische Einflüsse in sein Blut geschwappt. Ich habe ihn nie gefragt.
Nur durch Zufall geriet ich in sein Reich. Eigentlich hatte ich mir für die erste Stunde in der amerikanischen Highschool einen Computerkurs ausgesucht, aber schon nach dem ersten Besuch war klar, dass dies nichts für mich ist. Zurück im Administrationsbüro stellte die Koordinatorin für uns Austauschschüler fest, dass alle Kurse voll waren. Der einzige freie war der Einführungskurs Fotografie bei Mr. Binto.

Mr. Binto hatte nicht nur sehr liebe Augen, er war auch ein ungemein friedfertiger Mensch, dessen anarchischen Lehrmethoden seinen Schülern das Gefühl vermittelte, auf dem amerikanischen Pendant einer Waldorfschule gelandet zu sein.
Da es die allererste Stunde am Morgen war, brachte er tagtäglich frische Doughnuts mit. Nach gemeinsamen Frühstück, ging jeder seiner Wege. Wir konnten in der Dunkelkammer arbeiten oder das Gebäude verlassen, um draussen an unseren Assignments zu arbeiten. Diese Assignments sahen so aus, dass wir alle paar Wochen ein Thema bekamen, zu dem wir dann Fotos machen sollten. Ob nun in unserer Freizeit oder während der Stunde war ihm egal, so lange wir zum angegebenen Zeitpunkt unsere Arbeiten zur Benotung abliefern konnten. Er deckte uns auch, wenn wir uns selbstständig nach seinem Unterricht von den weiteren Stunden befreiten und stattdessen einfach den Rest des Tages in der Dunkelkammer verbrachten. Ab und zu gab es die so genannten Lectures, wo er bestimmte Techniken erklärte und vorführte. Aber auch darüber hinaus konnte man jederzeit eine persönliche Vorführung erfragen, wenn es um Inhalte ging, die erst im zweiten oder dritten Jahr auf dem Lehrplan standen. Durch seine zurückhaltene Art, die uns alle Möglichkeiten bot, aber deren Annahme nicht erzwang, erwachte damals bei mir die Liebe zur Fotografie. Ich vergötterte Mr. Binto und er gab mir ausschließlich Einsen (eigentlich "A"s), weil "wir Deutschen so unglaublich fleissig sind und nicht wie seine anderen Schüler auf ihrem fetten, faulen, amerikanischen Ärschen sitzen blieben".
Ich war derart in mein neues Hobby vernarrt, dass ich mit einem signierten Print als Abschiedsgeschenk von meinem von mir zu meinem Mentor erkorenen Mr. Binto und den Wunsch, Fotografin zu werden, in die Heimat zurückkehrte.

Vor ca. 5 Jahren besuchte ich das letzte Mal die USA und da ich zwar dank der Diskussionen mit meinen Eltern keine professionelle Fotografin geworden, aber meinem Hobby nach wie vor frönte, wollte ich meinen ehemaligen Lehrer wiedersehen und für seine Inspiration danken.
Im Sekretariat der Highschool hatte man jedoch leider kein Interesse, mir bei meiner Suche nach Mr. Binto zu helfen. Man erklärte mir nur unwirsch, dass er den Schuldienst quittiert hätte und verwies mich des Büros. Wenig später kamen mir dann Gerüchte zu Ohren, dass Mr. Binto Regisseur geworden wäre. In der Pornofilmindustrie. Und das dies das große Thema in der Schule wäre und man diese Peinlichkeit dort gerne unter den Teppich kehren würde.
Die Neuigkeit erstaunte mich. Nicht das ich ein Problem mit dem neuen kreativen Schaffensfeld meines ehemaligen Mentoren hätte, sondern eher weil ich mir beim besten Willen nicht die Resultate des leicht-hippiesken Künstlers, der mit Vorliebe alte indianische Zeichnungen an den Felswänden von New Mexicos Höhlen fotografierte, vorstellen konnte. Ich suchte damals sogar in Netz nach den Filmchen meines Lehrers. Doch erfolglos. Vermutlich arbeitete er unter einem Pseudonym.

Während meines Urlaubs wollte ich nun dem Mysterium auf den Grund gehen. Nicht aus purer Neugier, sondern weil ich aus 13 Jahren deutschen Schulbesuches gerade mal den Namen eines Lehrers wohlwollend im Kopf behalten habe, während es aus meinem Highschooljahr gleich zwei gibt, die mich beeinflusst haben, an die ich mich liebevoll erinnere und die die amerikanische Schule zu mehr als einem Ort der sozialen Kontaktanbändelung und Zeitvertreib in einer ansonsten recht öden amerikanischen Stadt im Südwesten der USA gemacht hatten.

Zuerst traf ich mich mit Mr. Alder, meinem Speech/Debate Lehrer und dem zweiten meiner Highschoolidole zum Frühstück. Ihn befragte ich dann auch zur angeblichen Pornokarriere von Mr. Binto.
Mr. Alder zögerte ein wenig, bevor er mit der Wahrheit herausrückte. Die sah ein wenig differenziert aus. Mr. Binto hatte tatsächlich gekündigt, jedoch nicht, um Pornos zu drehen, sondern um sich als Fotograf zu verwirklichen. Vollkommen unbedarft hatte er sein Können auf einer eigenen Homepage angepriesen und seine Dienste als Fotograf auf Hochzeiten, Familienfeiern, etc. angeboten. Unter anderem hatte er auch "Erwachsenenfotos" in sein Repertoire aufgenommen. Wenn also George mal keine Ahnung hat, was er seinem Schätzchen zum Geburtstag schenken könnte, da sie sich eh' immer alles selber kaufte, konnte er Mr. Binto buchen, um in Leopardenstring (oder auch ohne) auf einem Bärenfell zu posieren. Die Beschenkte könnte sich das Foto dann über den häuslichen Kamin hängen und alle Freunde, Nachbarn und Bekannte, die zu Besuch kämen, wären neidisch und würden ihre Partner zwingen, sich ebenfalls in erotischen Posen ablichten zu lassen. So ähnlich hatte sich das zumindest wohl Mr. Binto gedacht. Leider hatte er jedoch keine Modelle, die sich für Fotos zur Verfügung stellten, um diese Dienstleistung auf seiner Webpage anzubieten. Also fotografierte er sich und seine Frau. Und da amerikanische Highschoolschüler nicht ganz so dumm sind, wie man irrtümlich glaubt, zumindest, wenn es ums Internet geht, wurde rasend schnell ein Link zur Seite in seiner einstigen Schule verbreitet, die ein Foto vom ehemaligen Lehrer in ganzer Pracht zeigte. Das Entsetzen oder auch der Spaß war riesig, je nachdem, von welcher Seite man es betrachtete.
Leider wusste Mr. Alder nicht, was nun aus meinem Mentor geworden war, aber er ermutigte mich, Kontakt zu ihm aufzunehmen und dabei war das Telefonbuch freundlicherweise recht nützlich.

Am Tag vor unserem Heimflug trafen wir uns mit ihm und Mrs. Binto.
Er unterrichtet wieder, allerdings hat er sich den Zeiten angepasst, der Fotografie den Rücken gekehrt und sich auf digitale Bildbearbeitung spezialisiert.
Ich war ein wenig enttäuscht, da ich gehofft hatte, dass er noch immer leidenschaftlich fotografierte und meine Begeisterung teilen könnte. Mit seiner Karriere als Fotograf hatte es nicht so recht geklappt und obwohl seine Bilder auf diversen Ausstellungen gezeigt wurden, hatte er keine verkaufen können. Seine Frau beeilte sich, ihn zu korrigieren und erinnerte ihn daran, dass er ja durchaus Geld mit ein paar Aufnahmen verdient habe, doch er zuckte nur mit den Schultern und lächelte. Leben konnte man davon nicht und so war er sehr froh, als er auf einer Ausstellung von einem Bekannten angesprochen wurde, der ihm einen Aushilftsjob in einer Schule anbot. In den letzten Jahren war daraus eine Festanstellung geworden. Die Arbeit und die beiden kleinen Enkel hielten ihn und seine Frau auf Trapp, so dass er kaum noch zum Fotografieren kam. "Und dabei wollte ich immer mal nach Europa reisen, um mir den Kontinent anzusehen und Fotos zu machen. Na ja. Vielleicht mache ich das ja, wenn ich im Ruhestand bin." Ich bestand darauf, dass er mich besuchen käme, wenn es denn so weit wäre. Und dann lächelte er und seine kleinen braunen Augen, die aus dem Gewirr seiner inzwischen ergrauten Haarpracht herauslugten, wirkten nicht mehr ganz so traurig.

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