Cassandras Kopfkino
Dienstag, 22. März 2005
IN UNTERWÄSCHE VOR PUBLIKUM
cassandra, Dienstag, 22. März 2005, 14:19
Filed under: Erinnerungen
Wir wurden damals in der Schule gezwungen, uns zwischen Musik-, Kunst- oder Schauspielunterricht zu entscheiden. Obwohl ich sehr gerne malte, war ich vollkommen talentlos und entschied ich mich auf Grund mangelnder Zuwendung und Anerkennung durch die Kunstlehrerin für meine Kreationen für letzteres.
Das Fach, dass sich offiziell "Darstellendes Spiel" nannte, machte sich neben Schreibübungen (Klausurthema: "Schreibe einen Einakter, der auf Dialogen beruht, bei denen alle gesprochenen Worte mit einem "B" anfangen.") zum Ziel, halbjährlich eine Aufführung auf die Beine zu stellen.

Ich kam damals gerade von einem einjährigen Aufenthalt in Albuquerque, New Mexico zurück und wurde in die elfte Klasse zurückgestuft. Der Schauspielkurs hatte zum Ende des 10. Schuljahres Dürrenmatts "Der Meteor" aufgeführt und wurde auf Grund des großen Erfolges um eine erneute Vorstellung gebeten. Unglücklicherweise hatte eine der Damen den Kurs abgewählt und nun suchte man händeringend nach einem Ersatz. Da mein Geltungs- und Darstellungsdrang in jungen Jahren weitaus stärker ausgeprägt war, sagte ich - ohne zu wissen, worum es eigentlich ging - sofort zu, die Rolle zu übernehmen.
Erst dann beschäftigte ich mich mit dem Stück.

Der Zweiakter spielt durchgehend in der Wohnung des erfolglosen Malers Nyffenschwander. Er malt vorwiegend Bilder seiner leicht vertrottelten und unglaublich naiven Frau Auguste. Eines Tages kreuzt Herr Schwitter auf. Er hat seine Jugend in eben dieser Künstlerbutze verbracht und ist im Laufe der Jahre vom bettelarmen Niemand zum gefeierten Nobelpreisträger aufgestiegen. Eigentlich ist Herr Schwitter gestorben. Er ist gerade im Krankenhaus für klinisch tod erklärt worden. War er aber gar nicht und ist klammheimlich abgehauen, um zum Sterben an den Ort der Unbekümmertheit seiner Jugend zurückzukehren. Er nistet sich gegen Bezahlung im Bett des armen Maler ein und wartet auf sein Ende. Doch statt zu sterben, kommen nun alle möglichen Leute vorbei, um alte Rechnungen zu begleichen und sich zu verabschieden. Seine Frau, seine Geliebte und und und. An das Ende kann ich mich nicht erinnern, weil meine Rolle zu Beginn des zweiten Aktes ihren letzten Auftritt hat. Ich sollte die Auguste spielen. Nicht wirklich kompliziert. Ich renne den ganzen ersten Akt ständig durch alle Szenen und bediene Herrn Schwitter als persönliche Sklavin. Ich sage immer nur, egal, wie absurd seine Forderungen sind: "Jawohl, Herr Schwitter." Auch als er zum Ende des ersten Aktes meine Gesellschaft in seinem Bett fordert. Zu Beginn des zweiten Aktes ist die liebe Auguste (auf Grund des vermutlich erleuchtend guten Geschlechtsverkehrvollzuges - das erfährt man nie, weil in der Zeit der Vorhang geschlossen ist und das Publikum die Gelegenheit bekommt, die Toilette aufzusuchen oder eine Cola zu trinken) zu einer emanzipierten Frau mutiert und trennt sich mittels eines sehr langen, beeindruckenden Monologes von ihrem Versager-Ehemann. Abtritt Auguste.

Den Text hatte ich relativ schnell auswendig gelernt. Sorge und Kopfzerbrechen bereitete mir meine Kostümierung.
Der erste Akt beginnt folgendermaßen:
... An der Staffelei arbeitet in der Badehose der Maler Nyffenschwander an einem Akt. Das Modell, Auguste Nyffenschwander, sein Frau, liegt nackt, mit dem Rücken gegen das Publikum, auf dem Bett. ...“

Nachdem Herr Schwitter auftaucht, zieht sich Auguste einen Morgenmantel über, in dem sie die ersten Akt bewältigt. In der Endszene darf sie dann richtige Kleidung tragen.
Auf mein vorsichtiges Nachfragen erklärte man mir, dass es vollkommen ausgeschlossen ist, dass eine Darstellerin bei einer Schüleraufführung nackt auftreten dürfe. Man einigte sich darauf, dass Herr Nyffenschwander seine Frau nicht vollkommen unbekleidet, sondern in "Unterwäsche" male.
Ich studierte eine Videoaufzeichnung der vorrangegangenen Aufführung und stellte fest, dass ich das Outfit meiner Vorgängerin: Boxershorts, T-Shirt und später einen Frottee-Bademantel, unpassend und prüde fand. Auguste war zwar naiv, aber sich durchaus der Attraktivität ihres Körpers bewusst. Daher entschied ich mich für einen schwarzen Slip und ein schwarzes Spitzenhemdchen, über welche ich später einen roséfarbenden, kurzen Seidenkimono werfen wollte.
Das Klamottenthema war also vorerst geklärt.

Gab es nur noch Problem Nummer 2. Ich schwärmte damals ein wenig für Herrn Schwitter. Warum weiß ich heute nicht mehr, noch kann ich mich an den Namen des zierlichen, verklemmten Bübchens, der nur Computer im Kopf hatte, erinnern. Wir kannten uns aus dem Informatikclub (jeder hat seine dunklen Geheimnisse), ich war jung, unerfahren, mein Vater ein PC-Freak und ich fühlte mich damals zu blassen Computernerds hingezogen. Die psychologische Analyse erspare ich mir an dieser Stelle. Schönundgut, ich mochte Peer (musste jetzt doch mal kurz googlen, weil es mir keine Ruhe ließ), also Herrn Schwitter ganz gerne. Und nun sollte ich mit Herrn Schwitter ins Bett steigen.

Wir haben nie eine Probe durchgeführt, meine Textsicherheit wurde abgehört - und das war es. Ich erhielt keine Möglichkeit, herauszufinden, ob ich mich meinem Outfit gewachsen fühlte oder wie es sich anfühlt, das erste Mal auf einer richtigen Bühne zu stehen.
Plötzlich war sie da, die Aufführung.
Ich bin lampenfiebergeschwängert und erinnerunglos durch die ersten Szenen gestolpert. In Unterwäsche auf dem Bett liegen. Aufstehen. Mantel über. An den richtigen Stellen ein "Jawohl, Herr Schwitter." Ich bilde mir sogar ein, dass es jedes Mal emotionsgefärbt ein wenig anders klang.
Dann kam die entscheidene Szene. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir nicht ganz klar, wieviel Überwindung es kostet, sich vor fremden Menschen auszuziehen.

AUGUSTE: Die Windeln sind aufgelesen.
SCHWITTER: Verriegle die Tür! Hopp!
AUGUSTE: Jawohl, Herr Schwitter. Verriegelt die Tür. Verriegelt.

Er starrt gegen die Fenster.

SCHWITTER: Zieh die Vorhänge zu!
AUGUSTE: Jawohl, Herr Schwitter. Gehorcht.
SCHWITTER: Komm her!
AUGUSTE: Jawohl, Herr Schwitter. Geht ruhig zu ihm.

Draußen beginnt Nyffenschwander an der Türfalle zu klinken.

NYFFENSCHWANDER: Auguste.
SCHWITTER: Näher!
AUGUSTE: Jawohl, Herr Schwitter.

Nyffenschwander klopft.

NYFFENSCHWANDER: Auguste, mach auf!
SCHWITTER: Mich friert.
AUGUSTE: Soll ich den Pelzmantel –
SCHWITTER: Zieh dich aus!
AUGUSTE: Jawohl, Herr Schwitter.
NYFFENSCHWANDER: Aufmachen, Auguste! Aufmachen!
Poltert gegen die Türe.
SCHWITTER: Leg dich zu mir!
AUGUSTE: Jawohl, Herr Schwitter.

Während sie sich auszieht, poltert und rüttelt Nyffenschwander an die Türe.

NYFFENSCHWANDER: Aufmachen! Aufmachen! Der Scheck ist nicht gedeckt.

Blackout.
Vorhang.


Ich glaube, dass jeder einzelne Satz von Auguste, der ja mehr oder weniger eine Wiederholung des vorherigen war, vollkommen anders klang. Ich fühlte, wie die Anspannung bis zur Unerträglichkeit immer mehr anstieg. Ich verspürte von Sekunde zu Sekunde mehr Angst, die Laute wurden kehliger, der Atem kürzer, meine Furcht, in Kürze langsam den Knoten des Gürtels lösen zu müssen, den Seidenstoff über meine Schultern gleiten zu lassen, und die eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf Schritte zum Bett zurückzulegen, während sein Blick auf mich gerichtet ist, mich zu ihm zu legen, ließ mich alles um mich herum vergessen. Es gab kein Publikum mehr. Nur zwei Menschen und das Gefühl, sich nackt und schutzlos auszuliefern.
Meine Angst wurde im Publikum vermutlich als sexuelle Spannung interpretiert und half selbiges zu bannen. Ich legte mich neben Herrn Schwitter. Dies war der perfekte Zeitpunkt für den Vorhang, sich zu schließen und dem ersten Akt ein Ende zu setzen.

Doch nichts passierte. Der Vorhang bewegte sich keinen Millimeter. Ich konnte dies recht gut beobachten, denn ich hatte mich aus Furcht vor zu viel Intimität nicht in Richtung Herrn Schwitters gelegt, sondern hinter ihn mit Blick zum Publikum. Er lag Rücken an Rücken mit mir in Blickrichtung Bühne.
Die riesigen dunkelroten Samtvorhänge hingen schwermütig vor sich hin und dachten nicht einmal daran, sich in Bewegung zu setzen. Stattdessen starrte ich in eine Masse von erwartungsvollen Gesichtern. Nichts. Entweder war der schulexterne Theatertechniker, der von Anfang an etwas sehr beunruhigendes an sich hatte eingeschlafen oder er wichste sich fröhlich ins Land der Träume.
Mein Gehirn begann zu rattern. Improvisieren. Richtige Schauspieler würden an dieser Stelle irgendetwas tun, was nicht im Buch steht, aber passt. Das Publikum erwartet, dass Auguste jetzt Sex mit Herrn Schwitter hat. Umdrehen. Rücken an Rücken ist eine eher ungünstige Ausgangsposition. Augustes Rücken verdeckt alles was sie tut, oder vorgibt zu tun. Ein bißchen rummachen. Zeit überbrücken.

Ich konnte mich nicht bewegen. Umdrehen. Nein. Jetzt. Gleich. Vielleicht schließt sich der Vorhang ja jeden Augenblick. Was denkt das Publikum eigentlich gerade? "Na toll. Jetzt habe ich eins fuffzig bezahlt und dachte, jetzt poppen die gleich und nun machen die einen auf umgekehrtes Löffelchen."

Das dachte ich natürlich nicht.

Mir lagen natürlich Herrn Dürrenmatts Motive am Herzen. Wenn das Publikum nicht davon ausging, dass Herr Schwitter und Auguste unglaublichen, entrückenden, lebensverändernden, jenseitsallerirdischenmaßstäbeliegenden Sex hatten, machte mein Monolog zu Beginn des zweiten Aktes überhaupt keinen Sinn mehr.
Ich lag eine Ewigkeit gelähmt in der Gegend rum und überlegte angestrengt, was ich jetzt alles tun MÜSSTE (Herr Schwitter vermutlich ebenfalls, denn er schwitzte nur reglos vor sich hin.), als endlich der schwermütige Samt Erbarmen hatte und sich langsam schloss.
Mein bekleideter Monolog war anschließend vermutlich eines der Glanzlichter meiner Schauspielkarriere. Eine Frau darzustellen, die ihre eigenen Grenzen ausgelotet hatte, fiel überraschend leicht.

Erstaunlich waren die Nachwirkungen meiner ersten Bühnenerfahrung. Mein Mathelehrer, Herr K., der ebenfalls im Publikum saß, und in den ich während der gesamten Schulzeit auf Grund seines unendlichen Wissens und seiner langen Wimpern hoffnungslos verliebt war, wählte mich in einer dieser typischen Abi-Umfragen zur besten Schauspielerin der Abschlußklasse, Michael, der eine Klasse über mir war und in den ich vor meinem Amerikaaufenthalt sehr lange verschossen war, bestürmte mich nach der Aufführung noch wochenlang mit Fragen nach meiner Garderobe ("Sehr mutig. Hast Du das nur für die Rolle getragen, oder ziehst Du dich auch privat so an? ...").
Mit Herrn Schwitter hatte ich danach nicht mehr viel zu tun. Wir unterhielten uns nur über Informatik-bedingte Themen und er verriet mir den einen oder anderen Trick bei Leisure Suit Larry.

Seitdem habe ich mich nie wieder vor Publikum ausgezogen, das mehr als eine Person umfasste.

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