Cassandras Kopfkino
Samstag, 14. Juli 2007


TAG 7: DER AUSBRUCH
cassandra, Samstag, 14. Juli 2007, 17:20
Filed under: Ich beiss' in die Tischplatte
Visite ist heute wieder um erfrischende 7 Uhr. Der Herr Doktor schaut mir tief in die Augen. Alles ist super. Toll. Geradezu großartig.
Ihm rutscht versehentlich sogar ein „Erstaunlich“ angesichts der Werte meines linken, nicht operierten Auges heraus. Gemessen an seinem Temperament kommt diese Aussage eines rumpelstielzelesquen Rumgehopse und Hände über dem Kopf Geklatsche gleich. Grund für seine Verzückung sind die unerklärlich niedrigen Druckwerte, die ohne spezielle Behandlung auftreten und eventuell sogar die Operation am anderen Auge unnötig machen. Er kann sich die Entwicklung am linken Auge nicht erklären, doch ich weiss genau, was die plötzliche Verbesserung verursacht: Nackte Angst. Das linke Auge hat inzwischen dermassen die Hose voll, dass es sich jetzt am Riemen reisst, um ähnlichen Gäueltaten, die das rechte Auge erlitten hat, zu entgehen.
Der Herr Doktor sieht sehr glücklich aus, also bin ich es auch. Ich bin es leid, kompliziert zu sein. Ich will heim.
„Ich würde sie ungern gehen lassen.“ Das ist nicht nett, auch wenn es vermutlich so gemeint ist.

Einen halben Tag später, so gegen 10 Uhr, werde ich langsam wahnsinnig. Ein Freund von mir will heute auf dem Weg zur Arbeit vorbeischauen und mir einen Latte mitbringen. Ich wähle seine Nummer, um zu fragen, ob er bereits bei Starbucks in der Schlange steht. Er geht nicht ran. In der nächsten Stunde drücke ich noch ein paar Mal auf Wahlwiederholung. 14 unbeantwortete Anrufe später steht er endlich in der Tür. Ich greife nach meiner Handtasche und ziehe den Kerl hinter mir her in Richtung Ausgang. Wir müssen hier weg. Ich brauche was neues zum Anziehen. Ich stinke. Ich sehe schrecklich aus. Ich habe schlechte Laune.
Ich habe das Gefühl, dass der Krankenhausmuff mir aus allen Poren quillt. Ich muss sofort etwas zum Anziehen kaufen gehen und verlange, auf der Stelle zu einem bestimmten Baumwollhemdchengeschäft im Hafen gefahren zu werden. Der Freund setzt unsere Freundschaft gefährlich auf’s Spiel, indem er sich weigert. Letzten Endes hilft ein wenig sanfte Gewalt und moralische Erpressung. Er setzt mich am Hafen ab. Inzwischen ist es ein wenig sehr spät fürs Büro geworden und er muss los. Ist auch kein Problem, denn von hier aus kann ich nach dem Erwerb meiner neuen - und der Verbrennung meiner alten Leibchen, gemütlich zu Fuss in mein neues Heim zurückkehren.

Die plötzliche Weite, die mich umgibt ist erschreckend. Ich komme mir von einem Augenblick auf den nächsten vollkommen hilflos vor. Das eine Auge ist dick zugeschwollen und blutunterlaufen, das andere blickt durch ein Brillenglas, dass vor 10 Jahren vielleicht mal eine Stärke besass, die der Sehschwäche angemessen erschien.
Hier draussen ist alles sehr hell, sehr unscharf, das Blickfeld ist stark eingeschränkt und ich finde den Eingang vom Geschäft nicht. Aufgelöst renne ich links an der Glasfassade des Gebäudes entlang und rüttel an verschlossenen Türen. Ich kehre um und versuche es in der anderen Richtung. Alle Türen sind verschlossen. Ich presse die Nase an die Fensterscheiben, sehe jedoch auch keine Regale mit Kleidungsstücken, sondern statt dessen Schreibtische, an denen Menschen sitzen. Die mich komisch anstarren. Das könnte an meinem Schlapper-Samt-Jogginganzug-Outfit liegen, dass der Freund, der mich vorhin hier absetzte, nicht zu Unrecht als Schlafanzug bezeichnete.
Vielleicht starren die Leute auch auf diese eiternden Pusteln, die als allergische Reaktion auf die Pflaster, die man mir auf’s Auge klebt, meine rechte Gesichtshälfte zieren. Ich tapse einmal um das gesamte Gebäude herum und rüttle weiter an irgendwelchen Türen. Irgendwo entdecke ich einen Zettel. Das Geschäft gibt es gar nicht mehr. Es ist bereits vor einem halben Jahr umgezogen.
Ich würde jetzt gerne weinen, wenn ich dürfte, was jedoch nicht der Fall ist. Zudem werde ich gerade von einem erschreckenden Gedanken erhellt, der mich von meinem Unglück ablenkt. Ich werde mir nämlich darüber bewusst, dass ich hoffnungslos verloren wirkend, quasi im Schlafanzug, mit Matschauge, Ausschlag im Gesicht, bettzerwühltem Haar, ungeschminkt und in Flipflops inmitten des Medienhafens stehe. Einer Gegend, die fast ausschliesslich von meinen Kunden, potentiellen Kunden, Kollegen, freien Mitarbeitern unserer Firma, ehemaligen Kollegen und Dienstleistern von uns bevölkert ist. Und es ist Mittagspausenzeit. Vermutlich klingeln bereits jetzt die Telefone in der Firma und mein Chef muss darüber Auskunft erteilen, wie ich binnen so kurzer Zeit so tief abrutschen und auf der Straße landen konnte.

Ich drehe mich im Kreis auf der Suche nach Deckung und dem schnellst möglichen Rückweg zum Krankenhaus. In diesem Moment setzt ein Tornado ein. Es giesst aus Kannen. Es ist nicht nur verboten, dass Krankenhaus zu verlassen, sondern auch nicht sonderlich ratsam, mit kaputtem Auge in den von Keimen, Chemie und Bakterien durchsetzten Regen zu latschen.

Vor ein paar Jahren weilte ich einmal für ein paar Tage im Urlaub in irgend einer europäischen Großstadt. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann, wohin und mit wem ich diese Reise unternahm, aber ich erinnere mich an dieses Touristenpärchen. Sie waren beide um die 70, klein und unglaublich putzig, wie sie da beide nebeneinander an der Haltestelle standen und auf einen Bus warteten. Der Bus kam bereits sehr voll an. Ich vergass die beiden und drängelte mich mit den anderen Wartenden hinein. Als ich einen stabilen Stehplatz ergattert hatte, blickte ich wieder in Richtung Tür. Die ältere Dame war gerade eingestiegen. In diesem Moment schlossen sich ohne Vorwarnung die Türen des Busses und er fuhr los. Der alte Mann blieb an der Haltestelle stehend zurück. Er stand einfach nur absolut reglos da und starrte dem Bus nach, der seine Frau von ihm fortnahm.

Für einen kurzen Moment fühle ich mich wie dieser Mann. Vollkommen hilflos und mutterseelenallein in dieser fremden, kalten Welt.
Dann trete ich mir kurz und kräftig wegen dieses komplett überzogenen Anfalls von Selbstmitleid in den Hintern und rufe den Liebsten an, damit er mich abholen kommt.
Er fährt mich zur neuen Niederlassung des Geschäftes in der Innenstadt, ich ziehe mich bereits im Auto um und als ich ca. 3 Stunden nach meinem Ausbruch, strahlend und in komplett neuem Outfit wieder in der Station erscheine, fällt es noch nicht mal auf, dass ich weg war.
Den Rest des Tages verbringe ich damit, mir die Nägel schwarz zu lackieren.

Morgen geht es hier weiter mit den nägelkräuselnden Krankenhausgeschichten.

TAG 8: KEINE NEUIGKEITEN AUS LALALAND

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DEMNÄCHST EINZELZIMMER?
cassandra, Samstag, 14. Juli 2007, 11:03
Filed under: Ich beiss' in die Tischplatte
Marilyn folgt heute Angela und verlässt mich.
Eben fragte sie mich doch tatsächlich, ob sie den ganzen Ärzten und Assistenzärzten auch (!) Trinkgeld geben muss.

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