Cassandras Kopfkino
GEDENKTAG
cassandra, Mittwoch, 10. November 2004, 02:55
Filed under: Erinnerungen
Eigentlich ist es bereits zwei Stunden zu spät. Aber vor lauter durch die Auswirkungen des Kapitalismus verursachten, dass konnte ich mir jetzt nicht verkneifen Stress habe ich es ganz vergessen. Ich gedenke heute den Ereignissen, die unbeabsichtigt dazu geführt haben, dass ich hier sitze und der Mensch bin, der ich bin. Ich möchte meine Vergangenheit nicht missen, bin glücklich, auf eine Art und Weise aufgewachsen und erzogen worden zu sein, die immer Bestandteil meiner Persönlichkeit sein wird und die Chance erhalten zu haben, einen Gesellschaftwandel - was es letzten Endes für mich darstellt, unabhängig von seinen Vor- und Nachteilen - miterlebt zu haben.
Den Mauerfall habe ich als ursprüngliche Potsdamerin (!) und extrem wohlbehütetes Töchterchen eines NVA Offiziers und einer Lehrerin, nicht einmal wirklich miterlebt.
Ich wachte eines Morgens auf und sie war weg. Ich erfuhr den Meilenstein der deutschen Geschichte zwischen Toast und einer Tasse Milch. "Hä? Quatsch." War wohl meine damalige Reaktion.
Erst zwei Tage später durfte ich den wilden Westen entdecken. Er hatte stets diesen eigenartigen Geruch. Ich kann ihn nicht beschreiben. Selbst eine heimlich in den Osten geschmuggelte Bravo oder Popcorn hatte diesen Geruch. Ich habe ihn immer als Geruch des Westens bezeichnet. Exotisch. Eine Mischung aus Gewürzen, Parfümen, Vielfalt, Freiheiten, Abgründen, Erlebnissen. Als ich das erste Mal durch ein Kaufhaus in West-Berlin lief, waren es nicht die Farben, Produkte, Bilder und die Vielfalt, die mich schwindelig machten, sondern einzig und allein die unzähligen Düfte, die mich in Trance versetzten. Es ist so unglaublich schade, dass ich die Fähigkeit, diesen Geruch wahrzunehmen, bereits nach wenigen Wochen verloren habe.
Viel ist in 15 Jahren passiert. Ich möchte nicht darauf eingehen, was dabei gut oder schlecht gelaufen ist.
Ich geniesse es einfach, hier gerade auf meinem Sofa zu sitzen, nicht als Ossi oder Wessi oder Deutscher, sondern als Mensch, der durch seine Vergangenheit geprägt wurde.

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kid37, Mittwoch, 10. November 2004, 03:05
"Der Westen roch anders". Woher ist das nochmal? Interessant, daß Sie das bestätigen. Vielleicht war das wirklich das eindrücklichste. Ein Proustscher Keks.

Neulich teilte ich mit einem gelernten Ostler eine (zugegeben etwas abgestandene) Tafel Schokolade. "Hm. Schmeckt wie DDR-Schokolade!" war die etwas irritierte Reaktion. Archaische Erinnerungen, die bleiben.

Wir doofen Westler haben das ja nicht.

Was ist denn ein "gelernter Ostler"???
Diese Erinnerung kann leider überhaupt niemand nachvollziehen, der nicht als 12-jähriger inmitten eines Dutzend wissbegieriger Teenies (oh, ist man ja erst ab 13, also "Kinder") über einer Bravo gehockt hat, um die tollen Fotos der Stars zu begutachten. Ich erinnere mich an die Bettelattacken und ungeheuren Angebote, die damals für die raren Poster gemacht wurden. Das interessierte mich damals nicht wirklich. Ich wollte nur am Papier der Zeitschrift riechen. Klingt heute total krank. Wie so vieles. Ich habe z.B. ein extrem schlechtes Verhältnis zu einer meiner Omas. Sie musste sich damals zwischen den ihren geplanten Besuchen bei "West-Bekannten" und unserer Familie entscheiden. Ihr war es wichtiger, einmal im Jahr irgendwelche Leute "drüben" zu besuchen, als weiterhin ihre Tochter und Enkel zu sehen. Sehr krank und eigentlich nicht zum Thema gehörig. Fällt mir nur gerade ein. Ich kann noch heute nicht wirklich mit ihr umgehen.

Tja ....
Ein sehr weitreichendes Thema.

Meine erste grosse (erfüllte) Liebe, damals, lange ist es her, hatte Verwandschaft im "Osten". 40 km hinter der Grenze.
Sie waren irgendwann mal zu Besuch, gerade als mein 18. Geburtstag war. Sie konnten es ncht verstehen, dass ich AN MEINEM 18. Geburtstag mit einem 3 Jahre altem Golf vorfuhr. Ich konnte nicht verstehen, was daran so ungewöhnlich ist.

Ebenso wie in ihrem Posting. Was war wirklich anders, wie roch es anders? Ich denke, dass kann man nicht wirklich bechreiben.
Ich erinnere mich daran, dass wir ein paar Jahre vor dem Mauerfall zur Stufenfahrt in B waren. Der Ausflug nach Ost Berlin, inkl. 20 DM Zwangsumtausch waren Pflicht, auch wenn ich (und einige andere auch) gesagt haben "Wir wollen nicht".
Es war Pflicht, also musste wir mit. Wir haben uns die Sehenswürdigkeiten von Ost Berlin angesehen ... in ca. 2 Stunden. Sind danach in einen Vorort gefahren (mit der Bahn) und haben dort gegessen ....
Zwei riesen grosse Kotletts, mit einer Portion Pommes, von der man alleine satt geworden wäre, einen grossen Salatteller und 3 Bier pro Person. Als Nachtisch schlecht schmeckendes Eis.
Und die Dame sagte "12 Maahk bitte" ....
Da wir mit dem Plastikgeld eh nichts anfangen konnten, haben wir alles, was wir hatten, auf den Tisch gelegt ... pro Person 18 OstMark.
Wir haben weder die Freude in den Augen der Bedienung, noch den Hass in den Augen der am Nebentisch sitzenden VoPos verstanden. Weg mit dem Monopoly Geld.

Das ist nur ein Beispiel meiner persönlichen Erfahrungen.
Ob die Vereinigung so gut und richtig war, da kann man drüber streiten.
Was aber viel wichtiger ist, ist in meinen Augen der Unterschied, der immer noch nicht abgebaut ist. Einem "Ossi" war dieser Geruch neu, einem "Wessi" vieles, was die Damen und Herren aus dem Osten (auch jetzt noch) denken.

Das ist leider immer noch so - und das stimmt mich sehr nachdenklich!

Tja, ist mal wieder länger geworden als geplamnt und auch vom Thema abgewichen., Sry.

Gelernt ist gelernt. Den Begriff dürften Sie kennen.

Ich habe es nicht gelernt, denn ich komme aus dem tiefen Westen. Aber diese Geschichten berühren mich. Die Sehnsüchte finde ich nicht krank. Anderers womöglich schon. Zwänge, Hemmnisse und wirkliche Tragödien. Sich umdrehen und feststellen, das Heimatland ist plötzlich weg.

Davon höre ich in den West- und Fest-Sonntagsreden beinahe nie etwas. Daß da Menschen sind, die vielleicht immerzu sehnen müssen. Vorwärts immer, rückwärts nimmer.

Und manchmal umweht sie ein Geruch oder ein Geschmack. Von früher. Ich könnte theoretisch dahin zurückkehren. Sie nicht wirklich. Selbst, wenn Sie es gar nicht wollten. (Das klingt nur paradox, ist es aber nicht.)

Ja. Vieles ist sehr krank, das stimmt. Entscheidungen möglicherweise. Aber darüber sollte man nicht um drei Uhr morgens nachdenken. Wirklich nicht.

@kid ok, es ist spät ....
für einige auch früh :)

aber das war jetzt kein comment auf meinen, oder?
wenn ja, bitte erklären sie mir
"Von früher. Ich könnte theoretisch dahin zurückkehren. Sie nicht wirklich. Selbst, wenn Sie es gar nicht wollten. (Das klingt nur paradox, ist es aber nicht.)"

*grübel*

@blogleser: Sie hatten mich mit ihrem Kommentar überholt. Selbstverständlich ohne einzuholen ;-)
(Ich muß unbedingt schneller tippen.)

@kid

Dachte ich mir, aber um die Uhrzeit war ich mir auch nicht mehr sicher :)
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delacruze, Mittwoch, 10. November 2004, 12:30
Du sprichst mir, wie schon so oft, aus dem Herzen. Lass mich noch kühn hinzufügen, dass kein Westler auch nur ein Quentchen dessen sich vorzustellen vermag, was Dich, mich, uns, die, die wir unsere jungen Leben bis dahin im Arbeiter und Bauernstaat verbrachten, wirklich berührte und bewegte. Ich kenne den Geruch, auch ich war ihm erlegen, schon im Intershop konnte ich einfach nur dastehen und sog diesen Geruch in mir auf. Ich glaubte immer es wäre die Seife. Getoppt wurde das ganze, und das ist ein Bild, dass ich sicherlich für immer bewahren werde, als ich mit meinem Kumpel Janssen die Schule schwänzte und wir mit meiner Simson S51 nach Braunschweig fuhren. Wir wussten nicht einmal, ob die Grenze an der Stelle auf war. Es war so kalt, dass wir uns in Quedlinburg Socken in der Kaufhalle klauten und nach 8 Stunden Fahrt und einigen Rückenverspannungen, erreichten wir das Ziel der Reise. Braunschweig Innenstadt. Wir waren baff! Soviel Licht! Die Stadt hatte sich für die Adventszeit herausgeputzt und wir wurden blind und konnten nicht fassen, dass keinem auffiel, wie viel Licht es gab. Dann haben wir einen Hamburger gegessen. Einen richtigen Hamburger, einen Porno im Bahnhofviertel und eine Packung Bleistifte (die waren extrem Bunt) bei Karstadt geklaut und das war es. Wir fuhren durch die Nacht nach Hause, ich war für den Rest der Woche krank und Janssen wurde der gefeierte Star der Schule. Wir haben beide noch richtig Ärger bekommen mit unseren Muttis und der Frau Direktorin, die sich ein halbes Jahr später erhängte. Wir hatten uns nicht abgemeldet, aber diese Erinnerung war es wert! Übrigens, als ich neulich in Frankfurt auf dem Flughafen war, gab es den besagten Geruch auch, in einem Zeitschriftenladen. Vielleicht hast Du recht mit dem Papier.
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