Cassandras Kopfkino
ODE AN DIE JUGEND (vollkommen poesie-frei)
cassandra, Donnerstag, 28. Oktober 2004, 01:02
Filed under: Erinnerungen
Ein wichtiger Aspekt bei der Positionierung einer Wettbewerbsmarke ist die so genannte Copy-Analyse.
Im Bereich des Marketings ist nämlich nicht die Realität des Angebots als real zu betrachten, sondern die Vorstellung der Kunden über die Realität des Angebots.
Bei der Analyse der Positionierung eines Produktes im Markt zieht man daher bestimmte Faktoren in Betracht.
Einige dieser Faktoren sind wie folgt:
• Main Benefit („Vorteile“ des Produktes)
• USP („Unique Selling Proposition“)
• Reason Why (Anspruchsbegründung)
• Tonalität
• Zielgruppe
• Slogan

Wir fanden es damals nach der Ausbildung wohl lustig, alle unsere Mit-Azubis einer solchen Copy Analyse zu unterziehen. Der Mensch als Produkt. Die Ergebnisse wurden dann in einer Zeitschrift veröffentlicht.
Als ich meine Mutter mit dem Bild konfrontierte, dass meine Freunde und Leidensgenossen von mir hatten, wurde sie nur blass. Gesagt hat sie dazu nichts.

Verständlich.

Ich habe heute ein altes Exemplar dieser Zeitschrift hervorgekramt und dort stand das folgende:

• Benefit:
Lernwunder
Mitteilungsbedürftig
Starfotografin
Schlafzimmerblick
Naiv
Triebgesteuert

• USP:
Niedrige Hemmschwelle
Sommerlichste Klamotten im tiefsten Winter
Lebt auch ohne Schlaf

• Reason Why:
Ossi
Frönt den weltlichen Genüssen
Kreativ

• Tonality:
Bumsfidel
Frech, verträumt, naiv, sympathisch

• Zielgruppe:
Geschlechtsreife Männer

• Slogan:
„Waaaas?“
„Lernen? Das mach’ ich morgen früh in der Bahn.“
„Hallo, ich bin Cassandra. Wie geht deine Hose auf?“

Tja. War schon eine wilde Zeit damals.
Zwanzig Jahre alt. Was habe ich damals eigentlich gemacht? Partys feiern, fast jeden Abend die Woche. Ich fand’ es damals witzig, an einem Abend mit zwei Kerlen (nicht gleichzeitig) geschlafen zu haben oder mit zwei Kerlen (gleichzeitig) im Bett gewesen zu sein. Wir haben damals aus Spaß während der (extrem monotonen) Arbeitszeit angefangen, via firmeninternen Chat ein Drehbuch für eine Soap zu schreiben. Wir waren die Darsteller, die Firma unsere Location, wir erzählten unsere Geschichten und benannten das ganze nach einer infantilen, damals populären Serie, die rein zufällig fast die gleiche Postleitzahl hatte wie wir. Ich lebte in einer Soap. Inmitten von Menschen, die nie arbeiten müssen und nur für ihre Probleme, Intrigen und amourösen Geschichten, fernab irgendwelcher Realitäten leben. Die (unsere) Welt war ein Kokon.
Na gut, arbeiten mussten wir schon, manchmal sogar bis in die frühen Morgenstunden. Nebenbei musste ich meinen eigentlichen Lebensunterhalt in Kneipen und bei H&M verdienen. Vermutlich habe ich wöchentlich mehr Stunden gearbeitet als heute. Mit dem Unterschied, dass es mir damals egal war. Der Rest der Zeit ging für’s Spaß haben drauf. Schlafen kann man auch noch, wenn man alt ist. Wenn ich nicht gearbeitet, gefeiert oder gevögelt habe, habe ich fotografiert und Videos gedreht.
Nun bin ich wohl alt und verbringe meine Zeit am liebsten im Bett. Einem Ort der Ruhe und Besinnung. Ich lese, schreibe lange, nichtssagende Texte für’s Internet, denke nach und träume. Von Dingen, die ich tun möchte, Menschen, die ich lieben (und vögeln) möchte, von zukünftigen Erlebnissen und Abenteuern. Ab und zu versuche ich, mich gehen zu lassen, zu feiern, etwas zu malen, zu fotografieren, zu schreiben, zu erschaffen, aber nach einem erfolgreichen Abend des Versuchens folgt der Euphorie Desinteresse.
Habe ich mich in gerade mal zehn Jahren so unglaublich verändert? Auch heute bin ich oft unglaublich naiv. (Nun bezeichnet man dies jedoch als dumm.) Meine niedrige Hemmschwelle ist heute wohl eher ein Mangel an Takt und Einfühlungsvermögen für peinliche Situationen. Mitteilungsbedürftig bin ich offensichtlich auch jetzt noch. Irgendetwas muss sich jedoch geändert haben.
Ich will ein Stück von diesem alten Ich, dem sorglosen, freien, oberflächlichen, „fidelen“ festhalten.
Vielleicht habe ich mich deshalb am letzten Wochenende unglaublich mit Wodka betrunken und diesen armen, süßen, unschuldigen Mann brutalst abgeschleppt. Er hatte überhaupt gar keine Chance, sich zu wehren (und das hat er sogar versucht, wenn mich mein inzwischen um die Hälfte dezimiertes Hirn nicht um seine Erinnerungen betrügt). Einmal wieder wie eine Zwanzigjährige fühlen, ohne negative Gedanken oder ein schlechtes Gewissen. Sich von seinen Trieben leiten lassen. Es hat großen Spaß gemacht.

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kid37, Donnerstag, 28. Oktober 2004, 01:32
Wenn Sie moralische Stütze oder Absolution brauchen... Ich gelte da als Kapazität.

Sie sind ja süß...
habe gerade eine Mail an Sie geschrieben (und bereue es auch schon... ;-)
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yvonnesonne, Donnerstag, 28. Oktober 2004, 02:04
hab ich gerade heute gehört und mich darüber genauso gefreut wie über ihre geschichte:

Zum Glück muss ich Dich nicht lange überreden, mit mir noch irgendwo hinzugehen, weil Du genau weißt, um zu überleben muss man weiterziehen. Und auch wenn Du nur Deinem Instink folgst, wie irgendein Tier, fühle ich mich durch Deine Gegenwart geehrt, denn es geht mir so wie Dir.

Verstehen ist nicht dasselbe wie Überstehen - aber auch schön.


von der sterne neuem album das weltall ist zuweit

das ist sehr schön.
ab und zu muss man das denken vergessen.
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